Glaubwürdigkeit, Macht und Sprache: Interview mit Gert Postel über „Schwafelkunst“ und Kommunikation

Bis er enttarnt wurde, arbeitete der gelernte Postzusteller unter anderem als falscher Oberarzt in einem Fachkrankenhaus für Psychiatrie. Später schrieb er das Buch „Doktorspiele – Geständnisse eines Hochstaplers“.

Sprachliche und kommunikative Fähigkeiten waren wesentliche Faktoren, durch die Gert Postel trotz fehlender medizinischer Ausbildung auch Ärzte immer wieder hinters Licht führen konnte: Er wurde – nicht zuletzt weil er ihre Sprache sprach – mehrmals als Psychiater angestellt, zuletzt hielt er sich rund 20 Monate in der Position eines Oberarztes. Das Rhetorikmagazin hat nachgefragt, wie er über verschiedene Facetten der Kommunikation denkt. –

Sie haben sowohl Bewunderer als auch Gegner. Wie geht es Ihnen damit, dass Sie in den sog. Sozialen Medien von manchen Menschen verbal angegriffen werden?

Ich weiß, dass ich polarisiere. Aber die negativen Reaktionen sind mir relativ einerlei – ich nehme diese Phänomene wahr, ohne sie zu empfinden. Verletzt ist man nur dann, wenn man sein Gegenüber ernst nimmt. Diese Leute sagen etwas über sich selber aus, nicht über mich. Die wichtigste Regel ist, auf so etwas nicht zu reagieren.

Warum kommunizieren Menschen auf diese Weise?

Gert Postel ist auf Twitter aktiv: Seine Tweets führen oft zu regen Reaktionen und lebhaften Diskussionen.

Ich glaube, dass alles moralische Handeln auf drei Grundantriebsfedern zurückzuführen ist. Zunächst auf den Egoismus: Wenn Sie nicht genau wissen, aus welchem Motiv heraus jemand handelt, unterstellen Sie als Motiv den Egoismus – dann liegen Sie in 95 Prozent der Fälle richtig. Wir haben als weitere Motive auf der einen Seite den Altruismus und auf der anderen Seite den Sadismus.

Wenn Sie sagen „alles Handeln“, meinen Sie dann auch „alles Sprechen“?

Ja, Sprechen ist Handeln – Worte sind Taten, im metaphorischen Sinne, und Sprache ist nicht nur Ausdruck von Wirklichkeit, sondern schafft auch Wirklichkeit.

In einem anderen Interview sagten Sie, der Begriff „Hochstapler“ gefalle Ihnen nicht.

Nicht nur der Begriff „Hochstapler“ gefällt mir nicht, sondern mir gefällt jegliche Etikettierung im Umgang mit Menschen nicht, weil man durch sie der Realität nicht gerecht wird. Etikette sind geeignet, sozial zu töten, und ihre Verwendung ist eigentlich ein Zeichen von Denkfaulheit. Mir ist jedoch auch klar ist, dass Etikettierungen für einen funktionierenden Alltag notwendige Hilfsmittel sind.

Gibt es einen anderen Begriff, bei dem Sie sagen, dieses Etikett würde besser zu Ihnen passen?

Ich habe überhaupt nicht die Sehnsucht nach Etikettierungen. Selbst der schlichteste Mensch ist zu komplex, um seine Persönlichkeitsstruktur auf ein Wort zu reduzieren.

Was ist für Sie eine Lüge?

Das ist nicht ganz leicht zu beantworten. Zunächst hat nicht jede unwahre Behauptung die sittliche Qualität einer Lüge. Manchmal muss man der Wahrheit mit den Mitteln der „Lüge“ zum Durchbruch verhelfen. Es gibt jedenfalls höhere Güter als das Gut der Wahrhaftigkeit um jeden Preis. Positiv formuliert ist Lüge vorsätzliche Verfälschung der Realität mit einer zumeist egoistischen, gelegentlich auch sadistischen, Absicht.

Wer ist für Sie ein Lügner?

Es gibt Lügner, die charakterliche Defekte haben, also Menschen, die aus Eigennutz lügen und dabei den Schaden des Belogenen entweder billigend in Kauf nehmen oder intendieren. Und es gibt pathologische Lügner – jetzt sind wir bei der Pseudologia Phantastica oder Mythomanie. Letztere würde ich aber kaum mit dem moralischen Begriff „Lügner“ bezeichnen. Sie fabulieren sich einfach ihre Welt zurecht und glauben am Ende selber, was sie sagen.

Wenn Sie sich aber in einem Vorstellungsgespräch bei einer Klinik bewerben, und Sie behaupten, Sie hätten bestimmte Qualifikationen, die Sie gar nicht besitzen – ist das keine Lüge?

Gert Postel: „Wer mit Sprache gut umgehen können will, muss viele und gute Bücher und Zeitungen lesen.“

Die Betrüger zu betrügen war schon immer eine List der Schwachen gegen die vermeintlich Starken. Insofern wäre diese Lüge für mich möglicherweise gerechtfertigt. Ich hatte ja ein bestimmtes Ziel, ich wollte mich aus Rache über die Psychiatrie lustig machen.

Was hat Sie angetrieben?

Das Motiv war letztendlich der Suizid meiner Mutter. Sie hatte eine Depression, und ein Psychiater hatte ihr zwar antriebssteigernde, nicht aber depressionslösende Medikamente gegeben. Das hat dazu geführt, dass sie das Destruktive der Depression im Suizid ausagiert hat. Es war ein Behandlungsfehler mit fatalen Konsequenzen.

Irgendwann habe ich mich dafür „entschieden“, mich über Psychiatrie öffentlich lustig zu machen. Wobei es ja keine Entscheidung im eigentlichen Sinne war, denn Entscheidung impliziert, es gäbe einen freien Willen. Den gibt es aber sicher nicht. Wie einer ist, so muss er bei Eintritt der verursachenden Reize und Motive von außen handeln. Es gibt keine Freiheit der Entscheidung.

Es gibt immer die Frage – auch vor Gericht: „Warum hast Du das gemacht?“ Und ein Staatsanwalt könnte nach einer Antwort immer sagen: „Aber ein anderer hätte das nicht gemacht.“ – Ja, ich hätte anders handeln können, aber dann hätte ich ein anderer sein müssen. Aus den Umständen heraus alleine ist eine Tat nicht erklärbar. Der Tod meiner Mutter ist wahrscheinlich der letzte Grund, weshalb es zu dieser Oberarztinszenierung des Postboten gekommen ist.

Ich sage das unter allem Vorbehalt, denn man nennt seine Motive ja nur, soweit sie einem bewusst sind. Vielleicht sind die wirklichen Motive ganz andere, zu denen es keinen Zugang gibt.

Psychiatrie ist ein Sprechberuf, er lebt vom Reden. Sie haben die Psychiatrie einmal als „Schwafelkunst“ bezeichnet. Wie meinen Sie das?

Die Psychiatrie lebt von Wortakrobatik, vom Hin- und Herwerfen leerer, das heißt keiner Anschauung entnommener Begriffe. Ich kann mit Hilfe der psychiatrischen Sprache alles beweisen, jeweils auch das Gegenteil und das Gegenteil vom Gegenteil. Das ist alles sehr unseriös. Dabei verfügt die Sprache der Psychiatrie über eine begrenzte Nomenklatur, die jedoch gut klingt.

Es sind nicht viele Begriffe?

Nein, das lernen Sie an einem Wochenende.

Was ist der Unterschied, wenn ein Postbote mit seinen Kunden spricht und wenn ein Psychiater mit seinen Patienten spricht?

Das können Sie nicht vergleichen, denn der Psychiater spricht mit seinem Patienten zunächst in einem Hierarchieverhältnis, das sich daraus ergibt, dass der Psychiater – implikativ – nach seiner Selbsteinschätzung der Gesunde ist, während der Patient die Rolle des Kranken zu spielen hat. Daraus ergibt sich die Macht des Psychiaters und seine Definitionshoheit über die emotionale Verfassung des ihm ausgelieferten „Patienten“.

Gert Postel: „Emotionen übertragen sich. Wenn sich Menschen begegnen, begegnen sich nicht Datenverarbeitungsanlagen, sondern emotionale Felder.“

Wie hatten Sie selbst diagnostiziert?

Wie Psychiater das so machen. Psychiatrische Diagnostik ist simpel. Es gibt Persönlichkeitsstörungen, es gibt Depressionen, es gibt Psychosen – und nicht viel mehr. Man muss nur Symptome unter Krankheitsbegriffe subsumieren können, das kann jede dressierte Ziege und sogar ein mittelbegabter Hauptschüler.

Nehmen Psychiater Patienten ernst, wenn sie mit ihnen sprechen?

Vielfach nicht. – Es gibt aber auch anständige Psychiater, die, obschon sie Psychiater sind, über einen dem Menschen zugeneigten Charakter verfügen.

Auch weil Sie die Sprache der Psychiatrie beherrschen, wurden Sie als „Oberarzt“ ernstgenommen. Wie war das nach Ihrer Enttarnung?

Es gibt in der deutschen Psychiatrie keine Eitelkeit, die ich nicht verletzt hätte. Die Blamage der Psychiatrie war perfekt: 40 Fachärzte bewerben sich auf eine Stelle, der einzige Postbote wird eingestellt, auf Händen getragen, gelobt von diversen Chefärzten, Staatsanwälten, einem Bundesrichter, bis sich durch puren Zufall herausstellt: er ist nur Postbote.

Die Psychiatrie wendet dann gerne den pathologisierenden Abwehrreflex an. Ich wurde selbst anschließend im Rahmen des Strafverfahrens begutachtet. Der Sachverständige, ein Universitätsprofessor der Psychiatrie, war der Ansicht, dass ich an einer „Malignen Persönlichkeitsstörung“ leiden würde. Bei dem Begriff handelt es sich denn auch um eine Erfindung, denn das gibt es nicht einmal im ICD 10 [Anmerkung d. Red.: ICD 10 = „Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“].

Wie sprechen Psychiater untereinander, z. B. auf einem Kongress?

Man verhält sich so, wie man es von narzistisch gestörten Persönlichkeiten kennt. Man lebt in der Welt der eigenen Grandiosität, und jeder bestätigt dem anderen, wie differenziert und tiefdenkend er sei. Sie nehmen das, was sie sagen, sehr ernst.

Sie haben als Redner ein Fachpublikum vorgeführt: In einem Vortrag vor Psychiatern haben Sie einen unsinnigen Fachbegriff eingeführt, die bipolare Depression dritten Grades. Warum?

Ich wollte ausreizen, wie weit ich gehen kann. Anlässlich einer solchen Tagung habe ich nicht nur den besagten Vortrag gehalten, sondern auch einen Universitätsprofessor, den damaligen ärztlichen Direktor der Universitätsklinik Münster, gefragt, ob er die bipolare Depression dritten Grades im universitären Alltag häufig erlebe. Er sagte mit einem überheblichen, ordinarientypischen Gestus, das sei nicht häufig, aber es komme mitunter vor. Damit war mir klar: Ich bin als Hochstapler unter Hochstaplern gelandet.

Wie haben Sie Ihre Vorträge vorbereitet?

Nun, Psychiatrie lebt von Sprachakrobatik, und die habe ich ganz gut beherrscht.

Hatten Sie keine Angst oder Lampenfieber vor dem Fachpublikum?

Doch, natürlich.

Was haben Sie dagegen gemacht?

Ich habe mich in die Exposition begeben, also genau das getan, wovor ich mich gefürchtet hatte. Das ist der einzige Weg, um solchen Ängsten zu begegnen.

Neben der Psychiatrie gibt es viele Berufszweige, die auch von Sprache leben, z. B. die Juristerei. Halten Sie diese auch für eine Schwafelkunst?

Nein, überhaupt nicht. Ich finde, das Jurastudium ist eine reine Denkschulung. Das ist keinesfalls vergleichbar mit der Astrologie der Psychiatrie, sondern anständig und aller Ehren wert.

Wenn Sie z. B. im Fernsehen auftreten: Was ist authentisch, wie viel Narzissmus ist im Spiel?

Bescheidenheit bei mittelmäßigen Talenten ist bloße Ehrlichkeit und bei großen doch Heuchelei. Ich bin, glaube ich, mittelnarzisstisch. Mancher würde mir hier bestimmt widersprechen, weil ich in Talkshows zuweilen recht narzisstisch wirken mag. Diese Wirkung ist beabsichtigt: Ich spiele eine Rolle und mache das bewusst – denn die Kunstfigur ist nicht angreifbar. Ich bin der Auffassung, dass man in solchen öffentlichen Situationen nicht authentisch sein darf. Das Problem ist, dass viele Menschen den Schauspieler mit seiner Rolle verwechseln.

Narzissmus wird oft im Zusammenhang mit Karriere gesehen. Sind Menschen, die weit nach oben kommen, tendenziell narzisstisch veranlagt?

Wenn man diesen Begriff überhaupt verwenden will, dann ja. Denn der Introvertierte, ganz Bescheidene, macht eher nicht Karriere.

Kommunizieren Narzissten anders als andere Menschen?

Narzissten betreiben lustvolle Selbstinszenierung und blasen sich auf. Ich glaube, der klassisch narzisstische Mensch ist eben nicht selbstbewusst, obwohl er das mit Penetranz inszeniert. Was einer inszeniert, ist regelmäßig der sicherste Beweis dafür, dass er darüber nicht verfügt.

Ich bin davon überzeugt, dass der phänotypisch narzisstische Mensch ein nur sehr geringes Selbstwertgefühl hat. Weil er das im Innersten weiß, überkompensiert er unterbewusst sein Mindergefühl durch besonders aggressives, inszenierendes Auftreten – und wird von einem ahnungslosen Publikum beklatscht.

Wenn jemand von sich selbst sagt: „Ich lüge, weil ich mich damit z. B. im Beruf besser durchsetzen kann“ – ist das ein Anzeichen von Narzissmus?

Nein, das sagt zunächst etwas über den Charakter aus. Da will jemand seinen Vorteil haben und sagt: „Ich nehme den Schaden des anderen in Kauf“.

Gert Postel: „Das Problem ist, dass viele Menschen den Schauspieler mit seiner Rolle verwechseln.“

Was ist für Sie ein Zeichen dafür, dass ein Mensch glaubwürdig ist?

Ich kann mich auch täuschen und habe mich schon getäuscht, aber es ist eine Sache der intuitiven Wahrnehmung. Diese Frage ist schwer zu beantworten, und ich kann Ihnen nicht sagen, ob man sie überhaupt beantworten kann. Sie zwingen mich jetzt, mit rationalen Mitteln etwas zu begründen, was sich nicht rational vollzieht.

Umgekehrt gefragt: Wann haben Sie das Gefühl, jemand sei nicht glaubwürdig?

Das kann vieles sein: Körpersprache, emotionale Ausdrücke, synthetisches Getue, Nervosität bei Rückfragen. Aber ganz wichtig ist: Emotionen übertragen sich. Wenn sich Menschen begegnen, begegnen sich nicht Datenverarbeitungsanlagen, sondern emotionale Felder. Wenn ein Mensch Inszenierungen betreibt, ist er oft verkrampft. Dadurch bemerke ich auch in mir eine Verkrampfung. Ob jemand glaubwürdig ist, habe ich aber nicht immer in meinem Leben bemerkt und bin auch gelegentlich auf Menschen hereingefallen.

Sie haben einen Hauptschulabschluss, nie studiert, und gehen dennoch sehr geschickt mit Sprache um. Wie kommt das?

Der zentrale Schlüssel ist die Wahrnehmung. Ich wollte häufig in meinem Leben wissen, ob Menschen mir wohlgesonnen sind. Darum habe ich immer besonders genau beobachtet. Es hat mich damals verletzt, dass z. B. meine Freundin, Richterin in Bremen, viel klüger war als ich. Diese Verletzung habe ich dann in der Folge überkompensieren müssen und viel und Anspruchsvolles gelesen. Wer mit Sprache gut umgehen können will, muss viele und gute Bücher und Zeitungen lesen.

© Interview: Rhetorikmagazin
© Fotos: Gert Postel


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