Angela Merkel unsicher: Rhetorische Analyse ihrer Rede zum europäischen Fiskalpakt und ESM

Angela Merkel und die Rettung des Euro: Was kann man aus der Rhetorik der Bundeskanzlerin schließen? Kann man ihr glauben? Weiß sie, worüber sie spricht? Ist sie von dem überzeugt, was sie sagt?

Betrachtet man bei der Regierungserklärung vom 29. Juni 2012 nur Merkels Sprachstil, Körpersprache und Mimik und lässt alle Inhalte und Argumente außer acht, ergibt sich ein interessantes Bild.

Das Fazit aus rhetorischer Sicht: Frau Merkel ist sich zumindest nicht sicher.

Unabhängig von den Inhalten des Fiskalpakts und des Europäischen Stabilitätsmechanismus und unabhängig vom Vertrauen der Bevölkerung in die Beschlüsse der Regierung:

Auffallende Unsicherheiten, Versprecher, unverständlicher Sprachstil, genervte Blicke, die Verwendung von „natürlich“ bei Dingen, die nicht natürlich sind (und deshalb nicht stimmen müssen), verschleiernde Anglizismen und Abkürzungen können darauf hindeuten, dass Angela Merkel selbst nicht ganz von dem überzeugt ist, was sie sagt.

Die Redeanalyse im Detail:

Generell gehört eine Regierungserklärung zu den Reden, die verlesen und nicht frei gesprochen werden, denn schließlich kommt es auf jedes Wort an. So hält sich Angela Merkel bei den heiklen Themen Fiskalvertrag (EFSF) und Europäischer Stabilitätsmechanismus (ESM), die sie vor der Abstimmung durch den Bundestag und den Bundesrat erläutert, in weiten Teilen sinnvollerweise an ihr Manuskript.

Merkel verliert keine Zeit …

Die Regierungserklärung dauert rund 20 Minuten und 40 Sekunden und ist 2.455 Wörter lang. Damit hat Frau Merkel eine normale bis leicht erhöhte Sprechgeschwindigkeit von 105 Wörtern pro Minute. Die Geschwindigkeit deutet nicht unbedingt darauf hin, dass Frau Merkel die Rede schnell hinter sich bringen will. In der Zeit, die ihr zur Verfügung steht, hat sie jedoch viel zu sagen.

… stolpert aber deutlich öfter als üblich.

Dabei ist sie rund 30 Mal im Text hängengeblieben. Auch wenn sie nicht die beste Rednerin ist: Holprigkeiten in einer solchen Häufigkeit sind bei Frau Merkel selten. Typische Beispiele: „Vor-ka-gaben“, „ein solcher Pakt für Wettbewerb – für Wett – für Wachstum und Beschäftigung …“ „… eine verbesserte Anwend-er-ung – Anwendung …“, „dauser-dauer-haften…“, „… eines – eines …“ (Wortdoppelung).

Den Anfang und einzelne Teile ihrer Rede liest die Bundeskanzlerin ersichtlich ab. Das Manuskript scheint nicht ihre eigenen Formulierungen zu enthalten, denn Frau Merkel klingt nicht authentisch und bleibt recht hölzern. Hier wurde ihr vermutlich – vollkommen legitim – zugearbeitet, ohne dass sie selbst Zeit für eigene sprachliche Anpassungen oder eine längere Einarbeitung hatte.

Wenn sie versucht, Sachverhalte mit eigenen Worten, manuskriptfrei, zu formulieren, ist Merkels Sprache wesentlich fließender als in den vorgelesenen Teilen, aber auch mit offensichtlichen Unsicherheiten behaftet, z. B. bei der Wahl der Präpositionen.

Schwer verständlich, zum Teil verschleiernd, hin und wieder politische Allgemeinplätze.

Die Aussprache der Konsonanten fällt Frau Merkel teilweise nicht leicht, vor allem bei Wörtern wie „Finanzstabilität“. Ihre Zunge ist zeitweise hörbar schwer (z. B. „überwinnnen“ statt „überwinden“).

In den frei gesprochenen Teilen bleibt Merkel ihrem eigenen Sprachstil treu: Sie verwendet Passivkonstruktionen, Substantivierungen und Verschachtelungen, die Redner tunlichst meiden sollten. Verwendet man diese „Stilmittel“, tut sich das Publikum nämlich schwer, dem Redner zu folgen.

Zusätzlich benutzt Frau Merkel Begriffe, die nicht allgemeinverständlich sind und verschleiernd wirken, zum Beispiel „MOU“ (gesprochen: ämm-ou-juu), und: „… memorandum of understanding, die Konditionalität sozusagen …“, und: „public private partnership“, und: „Weil der ESM normalerweise den Preferred-Creditor-Status hat, …“. Während Politiker und Fachjournalisten vielleicht alles erfasst haben, war die anwesende Bevölkerung – das Publikum auf der Empore – sichtlich überfordert.

Mit Sicherheit hat Frau Merkel nicht gesprochen, um gut verstanden zu werden.

Trotz dieser Hürden, die sie dem Zuhörer in den Weg stellt, versucht Frau Merkel hin und wieder, das Gesagte zu erklären. Hierbei wendet sie klassische rhetorische Mittel an und leitet ihre Ausführungen z. B. durch Fragen ein, auf die sie anschließend Antworten gibt, beispielsweise:

„Was passiert mit dem Fiskalvertrag? Mit dem Fiskalvertrag binden sich nationale Regierungen und nationale Parlamente in bislang noch nicht dagewesener Weise dazu (Anmerkung der Redaktion: falsch verwendete Präposition), die Wirtschafts- und Währungsunion zu einer Stabilitätsunion zu formen. Warum machen wir das? Wir machen das aus der Erkenntnis, …“

Eingestreut werden Allgemeinplätze und Phrasen mit großem Interpretationsspielraum, z. B. „Wettbewerbsfähigkeit ist doch kein Selbstzweck.“, oder: „Wenn wir für die soziale Marktwirtschaft der Zukunft kämpfen wollen, dann werden werden wir ohne Wettbewerbsfähigkeit den Wohlstand unseres Landes nicht erreichen.“

Aber auch rednerische Lichtblicke.

Immerhin streut Frau Merkel einzelne rhetorische Finessen ein, wie diese Schlussfolgerung: „… und deshalb ist es uns so wichtig, aus Wettbewerbsfähigkeit Wachstum zu machen, und aus Wachstum Beschäftigung für die Menschen in unserem Land, und deshalb ist es richtig, dass wir einen Pakt für Wachstum und Beschäftigung geschmiedet haben. …“. – Ebenfalls weit interpretierbar, aber sprachlich gelungen.

Vorsicht vor Rednern und Schreibern, die „natürlich“ und „selbstverständlich“ verwenden.

„Natürlich“ und „selbstverständlich“ sagen Redner meist dann, wenn das Gesagte nicht stimmt oder wenn sie sich nicht sicher sind, ob es stimmt. Diese Erfahrung machen übrigens auch Richter bei Schriftsätzen von Anwälten.

Die Worte „natürlich“ und „selbstverständlich“ sind für sie Indikatoren dafür, dass an dieser Stelle etwas nicht in Ordnung sein könnte. Merkel verwendet den Begriff „natürlich“ gleich ein paar Mal, z. B. „Da war dann natürlich die Situation, …“. „Da muss natürlich wieder ein memorandum of understanding …“. „Dann wird natürlich wie bei jedem …“. Was will sie überdecken oder beschönigen?

Schnell hin, schnell wieder weg.

Werfen wir einen Blick auf Körper und Gesicht: Die wenigen Schritte von ihrem Platz zum Rednerpult geht Frau Merkel recht zügig. Die Lippen sind dabei zusammengekniffen, ihr Blick wirkt unsicher bis ängstlich und ist nicht zum Publikum gerichtet, sondern ins Leere bzw. auf das Rednerpult, an das sie sofort andockt. Die Rednerin sucht Halt.

Die teils sehr deutliche Gestik von Frau Merkel passt manchmal nicht zum Gesagten. Dann scheint sie zu merken, dass ihre Armbewegungen unlogisch sind, worauf sie sie verändert. Die Mimik der Bundeskanzlerin ist ernst, bei Zwischenrufen wirken ihre Gesichtszüge genervt. Nach ihren letzten Worten, „Herzlichen Dank“, verschwindet sie extrem schnell, fast noch während des Sprechens, vom Pult.

Alles in allem scheint sich Angela Merkel bei ihrer Regierungserklärung nicht wohlgefühlt zu haben. Es fehlte ihr an Überzeugungskraft. Aus den gehäuften sprachlichen Stolperern könnte man auf Nervosität und Unentschlossenheit schließen – vielleicht ist sich Frau Merkel auch inhaltlich unsicher und von der Richtigkeit von EFSF und ESM nicht überzeugt.

Möglicherweise litt sie auch darunter, dass ihr nachgesagt wird, sie habe sich bei den vorangegangenen Verhandlungen mit den Chefs der anderen Euroländer über den Tisch ziehen lassen. Dass dies in der Öffentlichkeit so wahrgenommen wird, ist ihr sicher nicht recht.

Was Sprachstil, Körpersprache und Mimik betrifft, hätte man von einer Rednerin, die sich ihrer Sache sicher ist, eine selbstbewusstere und aufrichtigere Wirkung erwartet.

Rhetorikmagazin
© Christian Bargenda, rhetorikmagazin.de


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