Wer darf was wann (nicht) sagen: Political Correctness und Meinungsfreiheit

Die Rede der Journalistin und Publizistin Dr. Antje Schrupp beim Kongress des Verbands der Redenschreiber deutscher Sprache (VRdS) 2014 in Berlin:

„Im Juni schrieb ein eher unbekannter CDU-Politiker auf sein öffentliches Facebook-Profil, er wisse nicht, ob es ein Grund zum Feiern sei, dass Homosexualität heute nicht mehr strafbar ist. Daraufhin entlud sich eine kleine Protestwelle über ihn, ein „Shitstorm“, wie das heute heißt. Die Junge Union Hessen wählte ihn aus ihrem Landesvorstand ab; er selbst ist dann aus der Partei ausgetreten, weil, so die Begründung, „die CDU meine eigene und freie Meinungsäußerung nicht akzeptiert“.

Was war passiert? Dieser Politiker hatte eine Grenze überschritten, eine Grenze, die es in jeder Gesellschaft und in jeder Kultur, und auch in jeder Subkultur und Subgesellschaft gibt, und die man zwingend kennen muss, wenn man sich am öffentlichen Diskurs beteiligt: und zwar die Grenze zwischen dem Diskutablen und dem Indiskutablen. Zwischen dem, was gesagt werden kann, und dem was nicht gesagt werden kann, jedenfalls nicht so ohne weiteres.

Diese Grenze wird selten bewusst beachtet, denn der allergrößte Teil politischen Sprechens bewegt sich im Bereich des „Diskutablen“. Wenn wir mal beim Beispiel der Homosexualität bleiben wollen, dann steht hier ja vieles zur Debatte, zum Beispiel, ob homosexuelle Paare dieselben Adoptionsrechte haben sollen wie Mann-Frau-Paare oder ob an Schulen sexuelle Vielfalt im Lehrplan vorzusehen sei und vieles mehr. Über all das und tausende andere Fragen existiert kein Konsens. Das heißt, egal welche Position man hier vertritt, man wird immer sehr viele Unterstützerinnen und Unterstützer finden, und es wird immer auch sehr viele geben, die anderer Meinung sind. Das ist der Bereich des Diskutablen.

Es gibt aber auch Ansichten, die diesen Bereich verlassen, weil ein Konsens existiert, der stark genug ist, um andere Ansichten als „unwahr“, als schlichtweg falsch erscheinen zu lassen – in dem Fall eben, dass Homosexualität etwas ist, das per Gesetz bestraft gehört. Oder, andere Beispiele: Dass Frauen von Natur aus dümmer sind als Männer, dass man ungehorsame Kinder ruhig auch mal so richtig verprügeln kann oder das Hitler eigentlich doch ein ganz okayer Politiker war. Solche Ansichten gelten in Deutschland heute als indiskutabel.

Der französische Philosoph Michel Foucault schrieb 1978:

„Jede Gesellschaft hat ihre eigene Ordnung der Wahrheit, ihre ‚allgemeine Politik‘ der Wahrheit: das heißt sie akzeptiert bestimmte Diskurse, die sie als wahre Diskurse funktionieren lässt; es gibt Mechanismen und Instanzen, die eine Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen ermöglichen; es gibt einen Status für jene, die darüber zu befinden haben, was wahr ist und was nicht.“

Was in einer jeweiligen Gesellschaft gesagt werden kann und was nicht, ist immer das Ergebnis eines historischen Aushandlungsprozesses. Es hat nichts mit Beweisbarkeit oder absoluter, objektiver Wahrheit zu tun, sondern es ist ein Kulturprodukt, eine Übereinkunft.

Im Alltag wissen wir normalerweise intuitiv, was in den Bereich des Wahren und also Diskutierbaren fällt und was nicht. Aber manchmal täuscht man sich, so wie der eingangs erwähnte CDU-Politiker, der nicht berücksichtigte, dass in Deutschland die prinzipielle Akzeptanz von Homosexualität nicht mehr zur Debatte steht. Nicht einmal in der CDU.

Die Grenze zwischen dem Diskutablen und dem Indiskutablen ist natürlich nicht starr, sondern sie ist jederzeit heftig umkämpft, sie verschiebt sich dauernd. So wäre die Meinung, dass Homosexualität unter Strafe zu stellen ist, vor dreißig oder vierzig Jahren in Deutschland ja noch keineswegs indiskutabel gewesen und ist es in zahlreichen Kulturen der Welt heute noch nicht.

Und auch ein einmal erreichter Konsens ist nicht in Stein gemeißelt, er muss immer wieder hergestellt werden, in einem ständigen und unaufhörlichen Prozess. Aber eine Gesellschaft, in der alles gesagt werden darf, gibt es nicht.

Wer sich am öffentlichen Diskurs beteiligen möchte, muss deshalb die Grenze zwischen dem Sagbaren und dem, was als „unsäglich“ gilt, kennen. Das heißt nicht, dass man sie niemals überschreiten darf. Natürlich darf man das. Ich selbst bewege mich in meinem öffentlichen Sprechen häufig an der Grenze des Diskutablen, das geht durchaus. Aber man muss eben wissen, dass man sich gerade an dieser Grenze bewegt, um nicht ähnlich kalt erwischt zu werden, wie der eingangs erwähnte Politiker.

Der Prozess der permanent neu verhandelten Grenzziehung zwischen dem Diskutablen und dem Indiskutablen ist normalerweise schleichend, aber manchmal gibt es Szenen, in denen von einem Moment auf den anderen sichtbar wird, dass diese Grenze sich verschoben hat. Im Fall von Homosexualität zum Beispiel war der Satz von Klaus Wowereit 2001 bei seiner Kandidatur als Berliner Oberbürgermeister so ein Moment. Er sagte, Sie erinnern sich, „Ich bin schwul, und das ist auch gut so“, und nahm so aufkommenden Debatten über seine Homosexualität den Wind aus den Segeln. Der einmütige Applaus, den er dafür bekam, bestätigte, worauf er sozusagen gewettet hatte: Dass der gesellschaftliche Konsens bereits ein anderer war als das, was Klatschblättchen oder politische Gegner damals vielleicht noch dachten, nämlich dass sich Wowereits sexuelle Orientierung gegen ihn verwenden lassen würden.

Ein anderes, jüngeres Beispiel für das Sichtbarwerden eines neuen Grenzverlaufs war das Portrait der Journalistin Laura Himmelreich Anfang 2013 im Stern über den FDP-Kanzlerkandidaten Reiner Brüderle. Darin beschrieb sie unter vielem anderem auch, wie er ihr gegenüber einmal abends an der Bar anzügliche Bemerkungen über ihre Brust machte. Auch das war sozusagen eine Wette, nämlich darauf, dass so ein Verhalten eines Politikers heute nicht mehr als bloß privater Charakterzug betrachtet würde, sondern dass viele daraus etwas über seinen politischen Charakter ablesen würden – und es also unter journalistischen Gesichtspunkten berichtenswert ist.

Ich habe bisher von „Gesellschaft“ in einem umfassenden Sinn – eben der „deutschen“ Gesellschaft – gesprochen. Man könnte dazu auch „Mainstream“ sagen oder Hegemonie, oder Minimalkonsens oder vorherrschender Diskurs. Aber natürlich gibt es „Gesellschaft“ auch auf einer kleineren Ebene. Wir leben ständig in zahlreichen nebeneinander und parallel bestehenden, sich teilweise überlappenden oder auch gegensätzlichen Gesellschaften. Am Stammtisch einer bayerischen Dorfkneipe gelten andere Wahrheiten als im autonomen Frauenzentrum, in einer Gewerkschaft andere als im Unternehmerverband, in einer Duisburger Moscheegemeinde andere als in der Berliner Partyszene und so weiter. All diese Gesellschaften konstituieren und produzieren jeweils für ihren Kontext auf die oben beschriebene Weise eine Wahrheit. In all diesen Gesellschaften gibt es Dinge, die gesagt und zur Diskussion gestellt werden können, und andere, die als „indiskutabel“ gelten. Nur sind es eben jeweils unterschiedliche.

Früher, vor dem Internet, waren diese Sub-Gesellschaften weitgehend voneinander abgegrenzt. Ein bayerischer Stammtischbesucher verirrt sich selten in ein autonomes Frauenzentrum. Unterschiedliche subkulturelle „Wahrheiten“ waren daher lediglich über die „öffentliche Meinung“ vermittelt. Doch heute haben im Internet alle die Möglichkeit, zu publizieren. Und deshalb sind die jeweils anderen „Gesellschaften“ immer nur einen Mausklick entfernt, und auf vielen Seiten und in Diskussionssträngen stoßen ihre Mitglieder oft sehr unbarmherzig aufeinander.

Ich merke das als Journalistin ganz unmittelbar: Wenn ich für große Medien arbeite, dann muss ich meine „Wahrheit“ – also, um es verkürzt zu sagen, die „Wahrheit“ einer Feministin – mit dem vermitteln, was gesamtgesellschaftlicher Konsens ist. Sonst würde ich nämlich nicht gedruckt, und ich würde wohl auch oft gar nicht verstanden.

In meinem eigenen Blog hingegen kann ich schreiben, was und wie ich will, ich muss nicht auf den „Mainstream“ Rücksicht nehmen. Ich entscheide, was interessant und diskussionswürdig ist und was nicht, und mit der Zeit bildet sich um diesen Blog herum eine Community von Leuten, die ähnliche Dinge für wahr und unwahr halten, die also einen gemeinsamen Grenzverlauf zwischen Diskutablem und Indiskutablem ziehen.

Bloggen ist im Übrigen eine ganz hervorragende Übung darin, ein Gespür dafür zu bekommen, wie diese Grenze immer wieder hergestellt wird. Denn mit jedem Kommentar, den ich als „indiskutabel“ weglösche, markiere ich ja diese Grenze. Und mit jedem Kommentar, bei dem ich überlege, weil er eben „grenzwertig“ ist, wird mir bewusst, wie schwierig das ist. Je nachdem, was ich an Beiträgen freischalte und was nicht, ziehe ich nämlich automatisch bestimmte Leserinnen und Leser an und schrecke andere ab. Wenn ich antifeministische Kommentare lösche, dann nicht deshalb, weil ich Zensur ausübe und die Meinungsfreiheit einschränke, wie mir dann manchmal entgegengehalten wird, sondern um eine bestimmte Gesellschaft zu umreißen. Denn würde ich diese Grenze nicht ziehen, würde ich andere Leserinnen und Kommentatorinnen verlieren, nämlich die, die auf „so eine Gesellschaft“ keinen Wert legen. Deren Beiträge sind mir aber wichtiger. Im Übrigen wird ja auch niemand daran gehindert, seinen von mir gelöschten Kommentator gleich nebenan in seinem eigenen Blog doch noch zu veröffentlichen.

Genau das macht das Internet so interessant: Wir alle können uns mit denjenigen Leuten vernetzen und diskutieren, die ähnliche Fragen und Interessen haben wie wir selbst. Wir müssen nicht mehr ständig Rücksicht auf den gesellschaftlichen Mainstream nehmen. Das gab es zwar früher auch, in kleinen Nischenzeitungen oder in bestimmten Räumen und Gruppen. Aber, und das ist der entscheidende Unterschied: Heute tun wir das öffentlich. Das heißt, alle anderen haben die Möglichkeit, uns zuzuschauen. Jeder Antifeminist kann die Debatten auf meinem Blog verfolgen (und ich weiß, dass viele das tun). Und ich kann deren Seiten lesen.

Das Internet hat auf diese Weise zu einer stark vergrößerten Sichtbarkeit von Sub-Gesellschaften mit ihrer je eigenen Wahrheit und ihrer je eigenen Grenze zwischen dem Diskutablen und dem Indiskutablen geführt. Der Erkenntnis, dass es nicht nur eine Wahrheit gibt, sondern dass Wahrheit kulturell hervorgebracht wird, ist heute nicht mehr zu übersehen.

Das ist einerseits eine gute Sache, denn kein Mensch kann ständig mit allen über alles diskutieren. Die Auseinandersetzung mit Ähnlichdenkenden ist oft inhaltlich ergiebiger, als mit allen Themen immer wieder bei Adam und Eva zu beginnen, und es gibt es ja auch innerhalb jeder Community noch unendlich viele offene Fragen, also einen riesengroßen Bereich des „Diskutablen“.

Andererseits besteht natürlich auch die Gefahr, dass dadurch so genannte „Filterbubbles“ entstehen, also Blasen, in denen sich nur noch Gleichgesinnte miteinander austauschen und man das Sensorium für „die anderen“ verliert. Es ist zwar normal und unvermeidbar, dass Grenzen zwischen dem Diskutablen und dem Indiskutablen gezogen werden. Trotzdem gibt es natürlich einen Spielraum für mehr oder weniger Offenheit. Gesellschaften, die die Grenzen sehr eng und undurchlässig ziehen, geraten in Gefahr, zu versteinern. Gesellschaften, die überhaupt keine Grenzen ziehen, lösen sich hingegen tendenziell auf – was allerdings auch nicht immer etwas Schlimmes sein muss.

Diese Gefahr der Abschottung besteht aber in der Offline-Welt mindestens genauso wie im Internet. Denn im Internet ist ja die nächste Filterblase, wie gesagt, stets nur einen Klick entfernt.

Noch ein anderer Punkt:

Es ist offensichtlich, dass nicht alle diese Sub-Gesellschaften gleich groß, gleich stark, gleich mächtig sind. Die Wahrheit, die in der Redaktion des Spiegels gilt, hat mehr Einfluss und mehr Reichweite als die in einer kleinen Szenezeitschrift. Die gesellschaftliche Konstitution von Wahrheit hat immer auch mit Macht zu tun.

Denn es ist eine Sache, ob ich für mich Grenzen ziehe – zum Beispiel in meinem Blog – um die Diskussionen, die dort geführt werden, in einem gewissen Fokus zu halten, oder ob ich den Anspruch erhebe, dass das, was in „meiner Gesellschaft“ als indiskutabel gilt, generell nicht diskutiert werden darf.

Viele verwechseln den Satz „Darüber möchte ich nicht diskutieren“ mit dem Satz „Darüber darf niemand diskutieren“. Und leider kommt es immer wieder vor, dass Menschen, die in gewissen Machtpositionen sind – und nur sie können ja die berechtigte Hoffnung haben, unliebsame Debatten wirksam zu unterbinden – ihre Macht ausnutzen, um Ansichten, die sie nicht teilen, aus dem legitimen Diskurs auszuschließen.

Im Juni schrieb zum Beispiel der frühere Chefredakteur der Zeit, Theo Sommer, in einer Kolumne, in der es eigentlich um etwas völlig anderes ging, über den, Zitat: „…blödsinnigen Feminismus, der die Universität Leipzig auf die Schnapsidee gebracht hat, die deutsche Sprache verhunzend und jede Logik verhöhnend, den „Herrn Professor“ fortan als „Herr Professorin“ anzureden und anzuschreiben.“

Vielleicht hatten Sie es mitbekommen: Die Leipziger Universität hatte beschlossen, bei gemischten Pluralbezeichnungen statt des generischen Maskulinums das generische Femininum zu verwenden, also von „Professorinnen“ zu sprechen und die Professoren mitzumeinen, während es ja normalerweise andersrum ist, man spricht von „Professoren“ und meint die Professorinnen mit.

Dr. Antje Schrupp: „Professionelles öffentliches Sprechen bedeutet, die Grenze zwischen dem Diskutablen und dem Indiskutablen zu kennen und sich ihrer bewusst zu sein.“

Davon kann man nun halten, was man will, aber eine solche Maßnahme als „blödsinnig“ oder „Schnapsidee“ zu bezeichnen, ist ein Versuch, sie aus den Grenzen dessen, was diskutabel ist, auszuschließen.

Es sind häufig zwei Mechanismen, die dabei genutzt werden: Lächerlichmachen und falsches Wiedergeben in polemischer Absicht. Es hat zum Beispiel niemand vorgeschlagen, männliche Professoren als „Herr Professorin“ anzureden, wie Theo Sommer behauptet, sondern es ging ja nur um Pluralbezeichnungen. Sein Kommentar ist keine Auseinandersetzung, sondern eine bewusste Irreführung, eine bloße Demonstration von Macht.

Wie Hannah Arendt gezeigt hat, beruht Machtausübung nicht nur auf bestimmten Positionen und Befugnissen, sondern ist – anders als Gewalt – auf die schweigende Zustimmung der Mehrheit angewiesen. Lächerlichmachen und falsches Wiedergeben der gegnerischen Positionen funktioniert nur dann, wenn man die Mehrheit des Publikums hinter sich hat.

Wobei das Lächerlichmachen derer, die eine „indiskutable“ Meinung vertreten, natürlich in den besten Familien vorkommt. Auch wenn ich mit meinen feministischen Freundinnen im kleinen Kreis zusammen sitze, machen wir uns manchmal über andere lustig, sagen, dass ihre Meinungen blödsinnig oder Schnapsideen sind.

Allerdings funktioniert das bei uns eben nur im kleinen Kreis, in unserer eigenen Community, es funktioniert nicht mehr, wenn wir unsere Ansichten in einer größeren Öffentlichkeit vertreten möchten, zum Beispiel eben in der Zeit oder im Spiegel. Wer Meinungen vertritt, die nicht im Mainstream liegen, die den Bereich des Diskutablen also verlassen, ist darauf angewiesen, das Gespräch zu suchen und andere zu überzeugen. Es stehen ihr oder ihm gar keine anderen Mittel zur Verfügung. Polemisieren kann man nur, wenn man sicher sein kann, dass die Mehrheit applaudiert.

„Das wird man ja wohl doch noch sagen dürfen!“ ist ein Satz, der in solchen Zusammenhängen oft fällt. Er ist eingebettet in das Wissen, dass das, was man da ja wohl noch sagen dürfen wird, die Mehrheit auf seiner Seite hat. Nicht unbedingt in dem Sinn, dass die Mehrheit diesem Satz hundertprozentig zustimmt. Aber eben in dem Sinn, dass sie diesen Satz für diskutabel hält, also für eine vertretbare Meinung, die selbstverständlich laut ausgesprochen werden darf.

Wenn dieser Satz fällt, ist das allerdings immer auch ein Hinweis darauf, dass man sich nun gerade in jenem Grenzgebiet des gerade noch Diskutablen bewegt. „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ ist der Versuch, diese Grenze eben nicht zu verschieben, obwohl einige – nämlich die, die dort angeklagt sind, einem dieses Sagen verbieten zu wollen – gerade dabei sind.

Wenn zum Beispiel Peter Hahne ein Buch auf den Markt bringt mit dem Titel „Rettet das Zigeunerschnitzel“, dann heißt das ja, dass der Begriff „Zigeunerschnitzel“ offenbar in Gefahr ist, er muss „gerettet“ werden. Und zwar vor Menschen wie mir zum Beispiel, die der Auffassung sind, dass Wörter, die zur Durchsetzung rassistischer Ideologie dienten, unbrauchbar geworden sind.

Darf man also heute noch Zigeunerschnitzel sagen? Selbstverständlich darf man das. Man darf ja sogar Bücher so betiteln. Diese Bücher werden beworben und in Auslagen gestellt. Aber, und das ist neu: Andere dürfen ebenfalls öffentlich sagen, dass sie das falsch finden. Man geht also das Risiko ein, kritisiert und von manchen nicht ernst genommen zu werden.

Auch die Verteidiger von Reiner Brüderle brachten ja dieses Argument vor: „So eine Bemerkung über das Dekolleté einer hübschen Journalistin wird man ja wohl noch machen dürfen.“ Natürlich. Aber man muss dann eben damit rechnen, von Feministinnen, die es ja auch in der FDP längst gibt, nicht wiedergewählt zu werden.

Der Satz „Das wird man doch noch sagen dürfen“ spielt auf einen angeblichen Verlust von Meinungsfreiheit an. Aber die Meinungsfreiheit ist in Deutschland sehr gut geschützt. Von einigen wenigen Punkten abgesehen wie etwa der Holocaustleugnung oder der Volksverhetzung, darf alles gesagt werden. Jeder Antifeminist und Homosexuellenhasser kann seine Meinung in Deutschland öffentlich vertreten.

In welchem Ausmaß er das kann, möchte ich an einem kleinen Beispiel anschaulich machen, das ich Ihnen jetzt einfach mal zumute. Ich selbst bekomme ebenfalls häufig Mails und Blogkommentare mit vergleichbarem Inhalt und Tonfall, und vielen feministischen Bloggerinnen, eigentlich fast allen, geht es ähnlich.

Die folgende Meinungsäußerung stand also vor einigen Wochen auf der Facebook-Seite des Autors Akif Pirinçci, der gerade mit seinem Buch „Deutschland von Sinnen. Der irre Kult um Frauen, Homosexuelle und Zuwanderer“ gegen angeblich zu viel Political Correctness zu Felde zieht. Es geht um eine Professorin, die unter anderem Geschlechterforschung betreibt. Da stand also, Zitat:

„Noch vor dreißig Jahren hätte man so eine Alte in den Knast gesteckt und sie solange dort behalten, bis sie verrottet wäre. Heute werden die Eltern der Kinder, welche diese Arschfick-Affine ganz offiziell verderben darf, gezwungen, mit ihren Steuergeldern ihr monatlich ein Gehalt zu zahlen.“

Wie gesagt, dieser Satz stand nicht auf irgendeinem unbedeutenden und obskuren Blog, sondern auf der Seite eines anerkannten Autors mit Medienpräsenz. Der Beitrag bekam in kurzer Zeit tausende „Likes“. Wenn so etwas möglich ist, muss man sich um das Recht auf freie Meinungsäußerung in Deutschland wohl keine Sorgen machen.

Aber das Recht auf Meinungsfreiheit umfasst eben nicht das Recht, die eigene Meinung jederzeit und überall ohne jegliche Konsequenz sagen zu dürfen. Das ist es in Wahrheit, was viele Kritiker und Kritikerinnen einer angeblich grassierenden Political Correctness einklagen. Meinungsfreiheit umfasst nicht das Recht, dass alle einem zuhören müssen, sie umfasst nicht das Recht, dass alle einen ernst nehmen müssen, und sie umfasst nicht das Recht, von niemandem kritisiert zu werden.

Wenn zum Beispiel Thilo Sarrazin, dessen politisch ja ziemlich inkorrektes Buch „Deutschland schafft sich ab“ in allen großen Zeitungen des Landes ausführlich besprochen und teilweise vorabgedruckt wurde, und der seine Ansichten in so gut wie jeder Talkshow präsentieren konnte, sich allen Ernstes darüber beklagt, in seiner Meinungsfreiheit eingeschränkt zu sein (und darüber gleich noch ein Buch schreibt), dann ist das wirklich Realsatire.

Menschen, die nicht zum gesellschaftlich privilegierten Mainstream gehören, können sich hingegen keine Illusionen darüber machen. Sie bekommen ständig zu spüren, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht auch das Recht einschließt, angehört und ernst genommen zu werden. Sie werden kaum in Talkshows eingeladen, ihre Bücher werden praktisch nie in den großen Zeitungen vorabgedruckt, und erst seit es das Internet gibt, haben sie überhaupt die Möglichkeit, sich öffentlich Gehör zu verschaffen.

Ja, und diese Möglichkeit nutzen sie manchmal. Nicht, dass die Kräfteverhältnisse gleich wären. Das Phänomen der Shitstorms bedeutet meistens, dass sich eine Flut von Kritik, Schmähungen, Lächerlichmachen und so weiter über Minderheitenmeinungen ergießt, wie wir in den letzten Tagen gerade am Beispiel der Videobloggerin Anita Sarkeesian gesehen haben, die für ihre Meinungsäußerungen – sie analysiert Sexismus in Videospielen – so aggressive Mord- und Vergewaltigungsdrohungen erhielt, dass sie ihr Haus verlassen musste.

Aber in Einzelfällen kann es auch mal anders herum sein. Vor einiger Zeit schaltete der Energiekonzern Eon ein Werbevideo mit dem Claim „E-wie-einfach“. Es zeigte eine Frau und einen Mann im Bett, die Frau redete und redete, der Mann war davon genervt und schlug sie schließlich bewusstlos – „E-wie-Einfach“ eben. Viele Frauen und auch zahlreiche Männer fanden das nicht witzig, sondern sahen darin eine Verharmlosung von häuslicher Gewalt. Sie organisierten Protest im Internet und nach zwei Tagen zog Eon das Video aus dem Verkehr. Auch Minderheiten können heute manchmal effektiv politisch agieren und auf diese Weise das Image einer Person oder einer Marke beschädigen.

In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine weitere Argumentationsfigur hinweisen, die bei solchen Gelegenheiten häufig zu hören ist, nämlich die Beteuerung, das sei doch nicht rassistisch oder sexistisch gemeint. Es sei doch nur Humor, Satire, witzig. Dieses Argument finde ich bemerkenswert. Denn natürlich sind offen rassistisch oder sexistisch gemeinte Positionen nicht akzeptabel – das wäre ja auch noch schöner! Aber wie kommt jemand auf die Idee, nur weil etwas nicht böse gemeint war, dürfe es auch nicht kritisiert und abgelehnt werden?

Noch eine andere rhetorische Figur ist zu beobachten, und zwar die so genannte „Nopology“, also die nur scheinbare Entschuldigung, die in Wahrheit gar keine ist. So schrieben etwa die Verantwortlichen für den Eon-Clip, es sei nie ihre Absicht gewesen, „mit dem Film die Gefühle der Zuschauer zu verletzen oder gar frauenfeindlich zu wirken.“

So eine Antwort tut so, als gehe es bei dem Streit um die subjektive Befindlichkeit derjenigen, die die Kritik vorbringen. Sie unterstellt, dass die Kritikerinnen und Kritiker irgendwie besonders empfindlich seien oder die Sache leider missverstanden hätten. Auf diese Weise kann man großzügig Entgegenkommen signalisieren und dabei gleichzeitig die eigene Machtposition noch einmal herausheben und reklamieren.

Denen, die Werbeclips oder Karikaturen als sexistisch oder rassistisch kritisieren geht es aber überhaupt nicht um verletzte Gefühle oder „Betroffenheit“ – auch wenn Sexismus oder Rassismus zweifellos Gefühle von Menschen verletzen – sondern es geht um eine Analyse von Strukturen.

Wenn ich kritisiere, dass in Werbevideos Gewalt gegen Frauen verharmlosend dargestellt wird, dann nicht weil „meine Gefühle als Frau“ dadurch verletzt würden. Sondern weil ich solche kulturellen Muster für schädlich halte, nicht nur für mich oder für die „Betroffenen“, sondern generell und für alle. Diese Meinung muss man nicht teilen, aber ich möchte, dass man sich ernsthaft und argumentativ damit auseinandersetzt. Genau das wird aber mit der Unterstellung, meine „Gefühle“ seien verletzt worden, verweigert. Auch das ist also eine Grenzziehung zum Indiskutablen.

Dieser Mechanismus war im Übrigen auch bei den Debatten über das Brüderle-Portrait von Laura Himmelreich zu beobachten. Auch sie wurde als Opfer konstruiert, wenn zum Beispiel gesagt wurde, ihr Erlebnis an der Bar könne doch nicht so schlimm gewesen sein, wenn sie später weiter mit Brüderle im Auto gefahren sei.

Es ging aber nicht darum, dass Himmelreich Angst vor Brüderle gehabt hätte oder sich persönlich von ihm herabgesetzt fühlt. Sie war der Ansicht, sein Verhalten ihr gegenüber sei ein Indikator für Brüderles politische Kompetenz. Es ging um eine journalistische Analyse über ihn als Kanzlerkandidaten, und deshalb war der Ort der Veröffentlichung – nämlich im Rahmen eines Politikerportraits – genau der richtige.

Ich komme zum Schluss und fasse zusammen:

Professionelles öffentliches Sprechen bedeutet, die Grenze zwischen dem Diskutablen und dem Indiskutablen zu kennen und sich ihrer bewusst zu sein. Das bedeutet nicht, dass man diese Grenzen immer einhält, ganz im Gegenteil. Aber nur wenn man weiß, wo diese Grenze verläuft, kann man sie auch bewusst überschreiten. Das Lächerlichmachen, Beschimpfen, Bedrohen oder auch die überhebliche „Nicht-Entschuldigung“ nutzen die eigene Machtposition aus, um Ansichten anderer als illegitim und indiskutabel zu kennzeichnen. Besser wäre eine kulturelle Praxis, die mit diesen Grenzen umzugehen weiß und ihren genauen Verlauf auf eine zivilisierte Art und Weise verhandelt.

Wie könnte das aussehen? Ich habe da kein Rezept, aber ich möchte einen Vorschlag zur Diskussion stellen.

Zunächst sollten wir jederzeit bewusst die Entscheidung treffen, worüber wir mit wem diskutieren möchten und worüber nicht. Wissend, dass dies eine persönliche und kulturelle Entscheidung ist und nicht die objektiv einzige richtige Art und Weise, diese Linie zu ziehen.

Niemand muss mit allen über alles diskutieren.

Aber wenn wir uns für eine Diskussion entscheiden, dann sollten wir die Argumente unseres Gegenübers auch ernst nehmen, denn das ist auch die beste Strategie, um die Grenze zwischen Diskutablem und Indiskutablem in unserem Sinne zu verschieben.

Ich persönlich habe dabei für mich folgenden Maßstab gefunden: Ich versuche, bei dem, was ich sage, diese Grenze argumentativ so weit zu dehnen, wie es in dieser konkreten Situation und mit den konkreten Menschen, mit denen ich es jeweils zu tun habe, möglich ist, ohne dass die Beziehung abbricht. Weil sonst nämlich keine Debatte mehr möglich ist.

Die meisten Menschen sind durchaus interessiert daran, nicht immer nur die ewig gleichen Wahrheiten serviert zu bekommen. Sie möchten auch in ihren Ansichten herausgefordert werden, sind interessiert an Aspekten und Argumenten, die sie bis dahin noch nicht kannten.

Genau das ist es, was meiner Ansicht nach eine gute Rede ausmacht: dass sie die Grenzen zwischen dem Diskutablen und dem Indiskutablen auslotet. Und ja, dafür braucht es eine gehörige Portion Taktgefühl, denn man darf weder dem Publikum nach dem Mund reden, noch es unvermittelt vor den Kopf stoßen.

Die Kunst des öffentlichen Sprechens besteht nicht darin, allgemeingültige Wahrheiten möglichst eloquent zu verkünden. Sondern sie besteht darin, in einem jeweiligen konkreten Kontext diejenigen Worte zu finden, die zwischen der eigenen Wahrheit und der Wahrheit der anderen vermitteln können. Die weder Differenzen unter den Teppich kehren, noch aber das Band der gemeinsamen Gesellschaftlichkeit so weit überdehnen, dass es reißt.

Autorin: Dr. Antje Schrupp
© Rhetorikmagazin


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