Wahl des Bundespräsidenten am 18. März 2012: Die Rede von Joachim Gauck im Wortlaut

Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

was für ein schöner Sonntag.

Es war der 18. März, heute vor genau 22 Jahren, und wir hatten gewählt. Wir, das waren Millionen Ostdeutsche, die nach 56-jähriger Herrschaft von Diktatoren endlich Bürger sein durften.

Zum ersten Mal in meinem Leben, im Alter von 50 Jahren, durfte ich in freier, gleicher und geheimer Wahl bestimmen, wer künftig regieren solle.

Die Menschen, die damals zur Wahl strömten, lebten noch im Nachhall der friedlichen Revolution, als wir das Volk waren, und dann die Mauern fielen.

Ich selber hatte als Sprecher des Neuen Forums in Rostock daran mitwirken dürfen. Wir waren schon frei von Unterdrückung, jetzt schickten wir uns an, Freiheit zu etwas und für etwas zu erlernen.

Nie werde ich diese Wahl vergessen, niemals. Weder die über 90 Prozent der Wahlbeteiligung, das wurde heute schon erwähnt, noch meine eigene innere Bewegung. Ich wusste, diese meine Heimatstadt und dieses graue, gedemütigte Land – wir würden jetzt Europa sein. In jenem Moment war da in mir neben der Freude ein sicheres Wissen in mir: Ich werde niemals, niemals eine Wahl versäumen.

Ich hatte einfach zu lange auf das Glück der Mitwirkung warten müssen, als dass ich die Ohnmacht der Untertanen je vergessen könnte.

„Ich wünschte mir ein Bürger zu sein, nichts weiter, aber auch nichts weniger als das“, so hatte ein deutscher Demokratielehrer, es war Dolf Sternberger, seine politische Haltung einmal definiert. Ich hatte am 18. März 1990 genau denselben Wunsch gespürt, und ich habe damals gefühlsmäßig bejaht, was ich mir erst später theoretisch erarbeitet habe. Dass aus dem Glück der Befreiung die Pflicht, aber auch das Glück der Verantwortung erwachsen muss. Und dass wir Freiheit in der Tiefe erst verstehen, wenn wir eben dies bejaht und ins Leben umgesetzt haben.

Heute nun haben Sie, die Wahlfrauen und -männer, einen Präsidenten gewählt, der sich selbst nicht denken kann ohne diese Freiheit. Und der sich sein Land nicht vorstellen mag und kann, ohne die Praxis der Verantwortung.

Ich nehme diesen Auftrag an, mit der unendlichen Dankbarkeit einer Person, die nach den langen Irrwegen durch politische Wüsten des 20. Jahrhunderts endlich und unerwartet Heimat wiedergefunden hat, und der in den letzten 20 Jahren das Glück der Mitgestaltung einer demokratischen Gesellschaft erfahren durfte.

Deshalb – was für ein schöner Sonntag dieser 18. März, auch für mich. Ermutigend und beglückend ist es für mich auch zu sehen, wieviele im Land sich in der letzten Zeit eingebracht haben und auch mich ermutigt haben, diese Kandidatur anzunehmen. Es sind Menschen ganz unterschiedlicher Generationen und Professionen, Menschen, die schon lange und Menschen, die erst seit Kurzem in diesem Land leben. Das gibt mir Hoffnung auf eine Annäherung zwischen den Regierenden und der Bevölkerung, an der ich nach meinen Möglichkeiten unbedingt mitwirken werde.

Ganz sicher werde ich nicht alle Erwartungen, die an meine Person und an meine Präsidentschaft gerichtet wurden, erfüllen können, aber eins kann ich versprechen: Dass ich mit all meinen Kräften und mit meinem Herzen Ja sage, zu der Verantwortung, die sie mir heute übertragen haben.

Denn was ich als Bürger anderen Menschen als Pflicht und als Verheißung beschreibe, muss selbstverständlich auch Gültigkeit haben für mich als Bundespräsidenten. Das heißt auch, dass ich mich neu auf Themen, Probleme und Personen einlassen werde, auf eine Auseinandersetzung auch mit Fragen, die uns heute in Europa und der Welt bewegen.

Ich danke Ihnen, den Mitgliedern der Bundesversammlung, für das mir entgegengebrachte Vertrauen. Sie, die sie hier gewählt haben, sind ja nicht nur Deputierte, sondern sie sind auch, das ist mir voll bewusst, Vertreter einer lebendigen Bürgergesellschaft. Ob wir also als Wahlbevölkerung am Fundament der Demokratie mitbauen oder ob wir als Gewählte, Weg und Ziel bestimmen – es ist unser Land, in dem wir Verantwortung übernehmen, wie es auch unser Land ist, wenn wir die Verantwortung scheuen.

Bedenken sollten wir dabei: Derjenige, der gestaltet, wie derjenige, der abseits steht: Beide haben sie Kinder. Ihnen werden wir dieses Land übergeben. Es ist der Mühe wert, es unsern Kindern so anzuvertrauen, dass auch sie zu diesem Land „unser Land“ sagen können.

Die ausführliche Analyse dieser Rede finden Sie hier.

Rhetorikmagazin,
Mitschrift: Christian Bargenda


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